"Die psychische Abhängigkeit ist exorbitant"
Vor allem in Großstädten des Bundesgebiets steigt der Konsum von Crack. Als Derivat von Kokainhydrochlorid, das mit Natron vermischt und erhitzt wird, wirkt es vielfach stärker und schneller als Kokain. Jan Sosna und Olaf Schmitz leiten in Dortmund die Drogenhilfeeinrichtung „kick“ und den angeschlossenen Drogenkonsumraum. Im Interview erzählen sie, wie Crack die Szene, das Stadtbild und ihre Arbeit verändert.
Interview: Alexandra Gehrhardt
Fotos: Daniel Sadrowski
Aus vielen deutschen Städten meldet die Drogenhilfe eine Zunahme von Crack. Wie ist das in Dortmund?
Jan Sosna: Um 2017 herum haben wir eine immer höhere Nachfrage nach Crack bemerkt. 2015 hatten wir im Schnitt fünf Konsumvorgänge von Crack im Monat, aktuell haben wir 1.500. In der Gesamtzahl aller Substanzen werden wir in diesem Jahr wahrscheinlich auf etwa 67.000 Konsumvorgänge hinauslaufen und alle Höchstwerte brechen. Die Konsummuster haben sich geändert, Crack geht deutlich schneller als das, was uns 20 Jahre lang begleitet hat: der intravenöse oder inhalative Konsum von Heroin, der schon mal 30 Minuten dauern kann. Den Konsum von Crack kann man in zwei Minuten über die Bühne bringen.
Womit hängt das zusammen?
J. S.: Zum einen reden wir über eine andere Verfügbarkeit in Europa, zum anderen ist unsere Zielgruppe eine, die in der Vergangenheit süchtig war. Dann ist man schnell wieder in der Spirale. Als Crack hier ins Rollen kam, trafen wir viele alte KlientInnen, die schon 20 Jahre Sucht hinter sich hatten. Viele sind diesem Teufelszeug verfallen.

Du sprichst von Teufelszeug. Inwiefern unterscheidet sich Crack von anderen Substanzen?
J.S.: Preislich tut sich das nicht viel, eine Konsumeinheit dürfte bei acht bis zehn Euro liegen. Heroin hat über Stunden eine entspannende Wirkung. Bei Crack könnte man nach 15 Minuten schon wieder nachlegen, weil die Wirkdauer sehr gering ist. Damit ist es dann doch sehr teuer.
Die psychische Abhängigkeit ist so exorbitant, dass die Menschen in vielen Momenten alles andere vergessen, auch Essen, Trinken, Duschen, Wäsche wechseln. Das führt dazu, dass manche in kürzester Zeit einen rapiden Gewichtsverlust erleiden. Es kann zu Langzeitfolgen und Erkrankungen kommen oder zu einem Herzstillstand.
Zeigt sich der höhere Konsumdruck auch in der Einrichtung?
Olaf Schmitz: Es sind eigentlich zwei Faktoren. Kokain hat eine aufputschende Wirkung. Die Leute sind per se hektischer und aggressiver als nach eher sedierendem Heroinkonsum. Dazu kommt, dass der Wunsch, das Glücksgefühl durch Crack zu erleben, so groß ist, dass sie losrennen, um das Geld für den nächsten Stein zu bekommen. Die Mischung merkt man ganz deutlich.
J.S.: Wir hatten früher im Café drei Stammtische, die waren immer voll. Jetzt sind viele Menschen gleich schon wieder unterwegs, um Geld zu organisieren. Und Betteln lohnt sich zwischen 10 und 20 Uhr, wenn die Geschäfte geöffnet sind. Man merkt auch, dass Höflichkeitsfloskeln wie Hallo, Bitte, Danke weniger werden. Ob es bei uns oder in der Szene aggressiver oder rauer geworden ist, weiß ich nicht, etwas rau ist es immer.
Welche Effekte hat Crack noch?
J. S.: Was wir neu beobachten und auf Crack zurückführen, sind Wahrnehmungsstörungen. Eine Folge von Kokain ist, dass man bestimmte Reize stärker wahrnimmt. Ein früherer Konsument hatte den Wahn, dass an seinem Hals Bienen entlang laufen. Er hat sich blutig gekratzt. So mancher hat einen Suchflash, durchforstet das Blumenbeet oder versucht, Moos aus Pflastersteinen zu kratzen.
Der Anteil derer, die psychisch auffällig sind, ist kontinuierlich gestiegen. Das fängt an beim Gefühl, einen Stalker zu haben, bis zur Annahme, dass bei der Entgiftung Chips im Hirn implantiert werden. An einige Menschen kommen wir mit unserer Arbeit dann nur noch schwer heran.
Erschwert das auch den Anspruch, mehr zu sein als ein reiner Konsumort?
J. S.: Ja. Wir haben in vielen Momenten gar nicht die Zeit, uns mit den Einzelnen so intensiv auseinanderzusetzen. Glücklicherweise haben wir mittlerweile zwei KollegInnen, die im Rahmen eines Umfeldmanagements tätig sind. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen zu uns kommen, sondern können rausgehen. Fernab von jeglichen Reizen kann man auf der Straße manchmal besser sprechen: Warum konsumierst du gerade so viel? Brauchst du gerade einen Personalausweis, um in eine Krankenversicherung zu kommen? Was können wir tun?
Also braucht es eigentlich mehr Sozialarbeiterinnen…
O. S.: Bei der Vermittlung in weiterführende Angebote werden oft kurzfristige Hilfen angefragt. Bei uns im kick fehlen oft die Ressourcen, in dem Moment, wo jemand den Willen hat, Hilfe anzunehmen, zu den Einrichtungen zu begleiten. Unsere Umfeldmanager können sich heute um einen Termin kümmern und morgen begleiten. So kommt unter Umständen Kontinuität in die Hilfen, während sie bei uns punktuell bleiben.

Sind die UmfeldmanagerInnen auch Schnittstelle zur Öffentlichkeit und HändlerInnen?
O. S.: In total hohem Maße. Neben dem aufsuchenden Streetwork und der Hilfe für die KlientInnen ist es ihr Hauptjob, ansprechbar zu sein für Beschwerden oder Auffälligkeiten in der Öffentlichkeit. Ich beobachte auch, dass sich das Verhältnis zu den Händlern verändert. Die Probleme werden für alle sichtbarer. Wenn Leute vor einem Laden konsumieren, ist das nicht schön. Aber zunehmend wird das Gespräch mit dem Umfeldmanagement und den Hilfeeinrichtungen gesucht. Das Verständnis dafür wächst, welche Problematik die Menschen haben, aber auch für die Begrenztheit für das, was wir anbieten können. Wir können nicht jeden in unsere Einrichtung zerren und alles wird gut. Das klarzuziehen, ist eine positive Entwicklung.
J. S.: Das nächste Problem: Es gibt seit Jahrzehnten Substitutionsprogramme für Heroin. Für Kokain oder Crack fehlt der Ersatzstoff.
Also bleibt mehr oder minder nur der harte Entzug, wenn man raus will.
O. S.: Der Weg führt letztendlich über eine Entgiftung, aber der Veränderungswille muss da sein. Und in den Entgiftungseinrichtungen ist Crack noch nicht wirklich als Thema angekommen. Auch KollegInnen in Frankfurt, Hamburg oder Hannover, wo es seit Jahren eine separierte Crack-Problematik gibt, haben wenige Konzepte, um dem permanenten Konsumdruck und der Verelendung zu begegnen.
Von Seiten von Ordnungsbehörden ist die Antwort häufig Repression und Vertreibung. Funktioniert das?
J. S.: Ganz einfach: Nein. Jeder zweite Konsumraum in Deutschland ist in Bahnhofsnähe, und die sind nun mal zentral. Aber nicht die Drogenhilfeeinrichtungen sind das Problem. Süchtige sind in der Innenstadt, weil sie hier mit Flaschensammeln oder Betteln Geld verdienen können.
Der Anteil unserer BesucherInnen ohne festen Wohnsitz wird nicht kleiner. Wenn Wohnungslosigkeit das Problem ist, braucht man vor allem erstmal eine Wohnung. Wer keine hat, konsumiert, wenn die Hilfseinrichtungen geschlossen sind, draußen und sichtbar. Darum ist gut, dass sich die Thematik von der Frage, ob das Kick am richtigen Ort ist, verschoben hat zur Frage, ob längere Öffnungszeiten eine Option sind. Die Erweiterung ist angedacht und ein guter Schritt.
O. S.: Es wäre wunderbar, wenn Menschen, die abhängigkeitskrank sind, genau wie andere Kranke die benötigte Substanz von der Apotheke kaufen könnten, ohne permanenten Beschaffungs- und Vertreibungsdruck zu haben. Die Realität ist: auch wir haben Security vor der Tür, die im Umfeld dafür sorgt, dass kein Handel oder Konsum betrieben wird. Eine Ecke weiter sind die Securitys von der Thier Galerie und vom Gesundheitsamt, Ordnungsamt und Polizei fahren herum. Das macht Sucht zu einer richtigen Hölle. In anderen Städten, zum Beispiel in Münster, wird versucht, so etwas wie Akzeptanzräume zu schaffen, an denen sich die Szene mehr oder weniger unverfolgt aufhalten kann und in gewissem Rahmen toleriert wird. Das könnte eine Entlastung bringen. Aber Repression löst keine Probleme, sie schiebt sie hin und her, zum Teil potenziert es sie.
Dieses Interview erschien in bodo 07.23.