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An die wohnende Bevölkerung

Janita Juvonen schreibt und bloggt, spricht vor Schulklassen, diskutiert auf Podien und führt Gruppen auf Stadttouren durch ihre Heimatstadt Essen. Immer geht es dabei um Obdachlosigkeit, immer weniger um ihre eigene Biografie.

Von Bastian Pütter

„Es ist nicht böse gemeint, aber inzwischen langweilt mich das oft“, sagt sie und lächelt. „Meine Geschichte kann ich nicht mehr ändern, das, was sie bei den Menschen meist hervorruft, ist Mitleid. Ich kann Mitleid aber so gar nicht leiden. Lieber möchte ich die Situation der heute Betroffenen verbessern, also rede ich über die Gegenwart. Meine Geschichte ist hierbei nur wichtig, um zu zeigen, dass ich weiß, wovon ich rede.“

Gleichzeitig weiß sie, dass sich an ihrer Biografie – und zu der gehören die schrecklichen und traumatisierenden Erfahrungen, die Obdachlosigkeit bedeuten – zeigen lässt, was schiefläuft im gesellschaftlichen Umgang damit, bei der Begleitung auf dem Weg zurück. Sie hat sich entschieden, mit diesem Material zu arbeiten. Als Aktivistin auf Social Media und im echten Leben. Mühelos springt sie dabei von sehr Persönlichem zu Strukturwissen zu den Wissenslücken der „wohnenden Bevölkerung“, wie sie sagt. Sie spricht selbstbewusst, ernst, aber mit trockenem Humor und immer wieder aufblitzender Selbstironie. Harte Sätze und unangenehme Wahrheiten kann sie im Ruhrgebietsidiom versöhnlicher klingen lassen.

Der kurze Abriss ihrer Zeit auf der Straße umfasst beinahe eineinhalb Jahrzehnte: Mit 14 meldet sich Janita in Berlin entkräftet und entnervt bei der Polizei. Sie ist nicht zum ersten Mal von ihren Adoptiveltern weggelaufen. Doch diesmal liegt der Polizei keine Vermisstenanzeige vor. Sie ist allein. Von nun an lebt sie in Berlin auf der Straße und später jahrelang in Essen unter einer Brücke. Janita wird suchtkrank, erlebt Gewalt und überlebt einen Brandanschlag auf ihre Platte. Schließlich wird sie so krank, dass sie fast auf der Straße stirbt. Dass auch nach einer Notoperation ÄrztInnen sich um sie bemühen und sie menschlich behandeln, ist der Auslöser, „mich selbst wieder als Mensch zu sehen, der dann wirklich sagt: ,Ich will nicht sterben!‘“

Für die obdachlose JJ, wie sie auf der Straße heißt, wird diese Situation nach 14 Jahren auf der Straße zum Wendepunkt. Für die Aktivistin Janita Juvonen ist sie der Anlass, Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft zu korrigieren: „Die Menschen sagen, du bist selbst schuld, wenn du obdachlos wirst. Sie sagen aber auch, du hast Glück, wenn du wieder eine Wohnung bekommst. Interessant, oder?“

In der Vorstellung der meisten ende Wohnungslosigkeit mit dem ausgehändigten Wohnungsschlüssel. „Die Vorstellung ist, mit diesem Moment sei alles gut. Das Gegenteil ist wahr. Obdachlosigkeit ist eine traumatische Erfahrung, die dein restliches Leben beeinflussen wird. Psychisch und körperlich, aber auch das gesellschaftliche Stigma bleibt. Auf dem Arbeitsmarkt, bei Ämtern, bei Ärzten. Obdachlosigkeit ist wie eine Straftat, die nicht verjährt. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir sie mit allen Mitteln verhindern müssen.“

Für Janita Juvonen beginnt ein jahrelanger Weg, erzählt sie: Die erste Wohnung ist eine Bruchbude, sie schafft es nicht, dort die Nächte zu verbringen, und schläft weiter draußen. „Die Leute sagen dir: Sei froh, sei dankbar, nutze die Chance. Das macht es noch schwieriger.“ Erst im dritten Anlauf und nach langer Zeit findet sie eine Wohnung, in der sie bleiben kann: „Vielleicht nichts Besonderes und sogar unrenoviert, aber ich wusste: Hier bin ich richtig.“ Sie kämpft gegen Panikattacken, lässt nachts die Lichter an, mit der Zeit wird es besser. Heute sagt sie: „Ich habe gute Strategien gefunden. Aber es gibt Dinge, die bleiben: Die Alarmbereitschaft legt sich nicht; ich schlafe mit der Zimmertür im Blick, und die muss offen sein. Zum Beispiel.“

Angekommen in der Wohnung fehlen Menschen, dafür kommen unangenehme Post und ebensolche Erinnerungen. „Ich hatte eine Wohnung und sonst nichts. Alle, die ich vorher kannte, meine sozialen Kontakte und mein ganzes Umfeld waren weg; ich hatte keine Familie, kein Geld und keine Arbeit. Dann sitzt du da, und die Erlebnisse und Gefühle, die du im Stress auf der Straße gar nicht verarbeiten konntest, holen dich ein. Und schließlich erreichen dich die unangenehmen Briefe der vergangenen Jahre – alle auf einmal. Auch das muss man aushalten können.“ Oder anders: Das müsste nach der so wichtigen Prävention ein Hauptfeld der Wohnungslosenhilfe sein: die Nachsorge. Ehrenamtliche hingegen wollten lieber Suppe verteilen und Schlafsäcke.

Janita Juvonen entscheidet, ihr Leben ganz grundsätzlich zu ändern: Sie will offen mit ihrer Geschichte umgehen und aktiv verlernen, was die Straße ihr beigebracht hat. „Ich weiß, das darf man vielleicht gar nicht sagen, weil es oft negativ ausgelegt wird, aber meine Körperhaltung hat sich geändert. Ich begann zu dem zu stehen, was ich bin, und wurde akzeptiert.“

Das rationale Verhalten auf der Straße sei Unterwürfigkeit: Wer ganz unten sei, komme damit am weitesten. „Du bekommst sie anerzogen, sie hängt dir unheimlich lange nach und macht dich mehr oder weniger handlungsunfähig. Weil du immer Sorge hast, negativ aufzufallen, bestehst du nicht auf deinem Recht, gibst vielleicht schon vorher auf und verharrst in diesen Mustern“, sagt Janita. „Ich konnte auf der Straße überhaupt nicht weinen, aber ich konnte eins: unecht auf Kommando heulen. Kommt immer gut, gibt immer Geld! Du verlernst wirklich, du selbst zu sein. Diese Person, mich selbst, die musste ich erstmal wiederfinden. Und auch Verlernen braucht Zeit.“

Inzwischen hat Janita Juvonen Routine darin, über den Alltag wohnungs- und obdachloser Menschen zu berichten, und ist doch immer wieder überrascht, wie groß der Informationsbedarf ist bzw. wie festgefügt die Vorurteile. Sie erzählt geduldig davon, dass Obdachlosigkeit ein Vorher und ein Nachher hat, dass es nicht „die Obdachlosen“ gibt, sondern sehr unterschiedliche Schicksale, und dass Drogen und Alkohol häufig Bewältigungsstrategien in der unerträglichen Situation der Obdachlosigkeit sind, nicht eine moralische Schwäche, deren Folge der Absturz ist. Sie erklärt, warum Menschen Notschlafstellen nicht aufsuchen – sie selbst hat es in den Jahren der Obdachlosigkeit nur dreimal getan und irritiert das Klischee vom aggressiven Obdachlosen:

„Menschen auf der Straße sind immer sichtbar, immer! Jeder kennt das, zu Hause mal laut zu fluchen oder buchstäblich die Wände hochzugehen, aber das bleibt im Schutzraum der eigenen vier Wände.“ Auf der Straße lebe man nicht nur im Dauerstress von Lärm und Licht und Dreck und fortwährender, mindestens gefühlter Bedrohung. Es sei auch fast nicht möglich, sich zu entziehen: den Wohlmeinenden und den anderen nicht: „Du kannst nicht einfach die Türe zumachen.“ Das klinge banal, bedeute aber alles. Und manchmal rasten dann auch die aus, die eigentlich den ganzen Tag versuchen, möglichst unsichtbar zu sein.

„Du musst das aufschreiben“, hat Janita Juvonen oft gehört nach ihren Vorträgen und Touren. Weil man wirklich so wenig weiß über Obdachlosigkeit? Oder weil die Geschichte einer klugen, charismatischen Frau, die fast gestorben wäre auf der Straße und heute wandert, sich vegan ernährt und in einer langjährigen Partnerschaft lebt, so – ja, was eigentlich – entlastend ist? Janita Juvonen spürt den Zwiespalt. „Ich habe gesagt, von mir gibt es kein zweites ,Kinder vom Bahnhof Zoo‘. Definitiv nicht.“ Geschrieben hat sie dennoch. Ein Erklärbuch, eine ausgestreckte Hand, um den Perspektivwechsel zu vollziehen und über den Schatten der eigenen Vorurteile zu springen. Fast fertig ist es und wartet auf einen Verlag, der etwas anderes sucht als eine Betroffenenbiografie. Nicht so einfach, vermutet sie, aber sie bleibt bei dem Satz vom Anfang: „Meine Geschichte ist hierbei nur wichtig, um zu zeigen, dass ich weiß, wovon ich rede.“