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Warum „Niemand muss draußen schlafen“ nicht die Wahrheit ist

Mit scheinbarer Klarheit verkündet die Stadt Dortmund: „Niemand muss draußen schlafen, wenn er dringend Hilfe benötigt.“ Für einen großen Teil der Betroffenen besteht diese Hilfe jedoch in der Unterstützung beim Verlassen der Stadt. Wer die ausschlägt, gilt als freiwillig obdachlos. Ein erheblicher Teil der sichtbaren Obdachlosigkeit in Dortmund besteht aus Menschen ohne Zugang zu Notschlafstellen. Alle PraktikerInnen wissen das, alle Obdachlosen auch. Die Öffentlichkeit soll es nicht wissen. Aber warum eigentlich?

Ein Kommentar von Bastian Pütter

In der Dortmunder Innenstadt demonstriert die Initiative „Schlafen statt strafen“ gegen die Behandlung obdachloser Menschen durch die Stadt. Die mehr als einwöchige Aktion hat große mediale Aufmerksamkeit erzeugt, entsprechend sah sich die Verwaltung zur Verteidigung ihres Vorgehens gedrängt. Auf der Pressekonferenz nach der Sitzung des Verwaltungsvorstands sprachen die Sozialdezernentin und der Oberbürgermeister zum Thema. Beide Beiträge waren voller Ungenauigkeiten und Widersprüche, präziser war die im Anschluss herausgegebene Pressemitteilung, in der jedes Wort abgewogen war, um eine einfache Wahrheit zu verdecken: Nur ein Teil der obdachlosen Menschen in Dortmund erhält Zugang zu einem Schlafplatz in einer der Notschlafstellen. Das ist seit Jahren gängige Praxis, das Thema ist allerdings brisanter geworden, seit die Gewerbetreibenden in der Innenstadt aufbegehren. Deren Zorn richtete sich zuerst gegen die überaus sichtbaren sozialen Probleme im Bereich des Westenhellwegs: Suchtkranke und obdachlose Menschen gehören (wie in allen Großstädten) zum Stadtbild. In der Pandemie hat sich die Situation jedoch verschärft; unter anderem hat sich die Zahl der sichtbar im öffentlichen Raum schlafenden Obdachlosen erhöht, insofern ist die Frage, ob in der Innenstadt schlafende Menschen eine Alternative hätten, relativ entscheidend. Die Stadt verweist auf das „ausdifferenzierte“ Hilfesystem und die Übernachtungsangebote.

Rechtlich stellt sich die Lage so dar: Die Kommunen sind gesetzlich verpflichtet, jedem und jeder unfreiwillig Obdachlosen eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung zu stellen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) betont: „Wohnungslose Menschen haben ein Recht darauf, von der Kommune, in der sie sich aktuell und tatsächlich aufhalten, mit einer Notunterkunft nach Ordnungsrecht versorgt zu werden. Dabei ist es unerheblich, wie lange sich die Betroffenen bereits in der Kommune aufhalten.“

Die Stadt Dortmund hat einen Hebel gefunden: Tatsächlich ermöglicht sie kurzfristig Unterkunft in den Notschlafstellen – dass auch das Einzelnen nachweislich verweigert wird, ist ein anderes Thema. Was dann oft folgt, ist das Angebot von Rückkehrhilfen, sollte im Ausweis des oder der Betroffenen nicht Dortmund als Ort des letzten Wohnsitzes stehen. Wer das Zug- oder Busticket nach Essen, Hannover, Gdansk oder Bacău ablehnt, gilt fortan als freiwillig obdachlos. Das ist kein spezifisches Dortmunder Vorgehen, auch andere Kommunen praktizieren das so.

Bei Obdachlosen kann das „Wohnen“ Jahre zurückliegen, besonders für einen Großteil der osteuropäischen Männer unter den Dortmunder Obdachlosen ist eine Rückkehr ins Herkunftsland keine Option, obwohl sie hier unter dramatisch schlechten Bedingungen, ohne Sozialleistungen und ohne Krankenversicherungsschutz leben. Ihre Lage würde sich mit der Rückkehr eher noch verschlechtern.

Wie konnte aus diesem Jahre alten Faktum, dass im Prinzip nur Obdachlosen, die in Dortmund ihre Wohnung verloren haben, ein Schlafplatz gewährt wird, die Behauptung werden: „Niemand muss draußen schlafen, wenn er dringend Hilfe benötigt“? Der rhetorische Trick ist das Sprechen von der Freiwilligkeit.  Wer sich in der Notschlafstelle als obdachlos vorstellt, erhält (meist) ein Bett, dann ein Angebot zur Unterstützung beim Verlassen der Stadt. Schlägt er oder sie das aus, „handelt es sich um eine eigene Entscheidung“, so die Stadt. Die Obdachlosigkeit wird freiwillig.

Andere Großstädte gehen mal hart, mal zerknirscht mit der Tatsache um, dass für alle sichtbar die Zahl obdachloser Menschen wächst, denen man keine passenden Angebote machen kann oder will. In Dortmund leugnet man das Offensichtliche, nutzt rhetorische Tricks und wendet die erzeugte Wirklichkeit gegen die Betroffenen. Im aktuellen Konflikt um den Westenhellweg rechtfertigt der Oberbürgermeister Vertreibungen so: „Wir halten es nicht für akzeptabel, dass trotz der ganzen Angebote von Hilfen jeder aussuchen kann, wo er schläft.“