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„Wir schauen den Menschen seit Jahren beim Sterben zu.“

Im Jahr 2019 begann der Verein Vringstreff e. V. in Köln mit seiner Housing-First-Initiative. Dr. Kai Hauprich war von Anfang an als Projektleiter dabei. Der stellvertretende Geschäftsführer des Vereins hat in den letzten drei Jahren Fördergelder beantragt, Stellen geschaffen und letztlich 14 Menschen, die zuvor obdachlos waren, in Wohnraum gebracht. Teilweise ein Kampf gegen Windmühlen, wie der 34-Jährige im Gespräch sagt. „So ist das bei Innovationen. Das halten wir aus.“

Von Christina Bacher

„Housing First“ gilt weltweit als Lösung, Obdachlosigkeit auf lange Sicht abzuschaffen. Es geht um den direkten Zugang zu Wohnraum, aber nicht nur?

Genau. Das größte Missverständnis ist es tatsächlich, dass man glaubt, es muss nur eine Wohnung her und der Rest wird sich schon fügen. Wir haben es bei Obdachlosen oft mit Menschen zu tun, die vor allem ausgegrenzt sind, häufig seelisch schwer krank oder suchtkrank. Sie leben draußen, weil sie aus guten Gründen unsere bestehenden Angebote nicht in Anspruch nehmen können oder wollen. Deswegen muss man Housing-First-Projekte etablieren, die viel weiter greifen und alle Hilfen anbieten, die diese Menschen sich wünschen. Und zwar nicht von oben herab, sondern selbstbestimmt und auf Augenhöhe. Es geht bei Housing First um eine Verbesserung der Lebenssituation – ohne Druck und Zwang.

Ein komplett neuer sozialarbeiterischer Ansatz, oder?       

So ist es. Menschen, die obdachlos geworden sind, wollen leben wie jeder andere auch. Das heißt in erster Linie selbstbestimmt. Deshalb gehen viele von ihnen auch nicht in die Notunterkünfte: Sie wollen nicht mit der stigmatisierten Gruppe der Obdachlosen identifiziert werden. Sie möchten auch nicht auf engstem Raum mit anderen Suchtkranken schlafen, am Ende noch beklaut werden. Sie sind nur aus einer Not heraus auf der Straße und wären lieber ein integrierter Teil der Gesellschaft.

Also geht es auch nicht um Tiny Houses, Wohnwagen oder andere alternative Wohnformen? Wäre das nicht besser als nichts?

Wenn es draußen kalt ist, dann kann sowas sicher eine pragmatische Hilfe sein. Nachhaltige Lösungen sehen anders aus: Hinter Housing First steht ein hochkomplexes Betreuungsprogramm, das auch einen menschenwürdigen Wohnraum vorsieht, also einen Mindeststandard. Wenn einer unserer Klienten in eine Wohnung einzieht, rate ich mittlerweile, sich nicht als Ex-Obdachloser vorzustellen, sondern eben beispielsweise als der Friseur oder der Lehrer, der er eben auch mal war oder eben auch noch ist.

„Unser Ansatz ist zu fragen, was die Menschen wollen, und dann herauszufinden, wie wir genau dabei unterstützen können. Die meisten möchte zuerst eine Normalwohnung.“ 

Dr. Kai Hauprich ist Projektleiter beim Kölner Vringstreff und Co-Vorsitzender beim neu gegründeten Bundesverband Housing First. Foto: privat

Immer wieder hört man: In Deutschland muss doch niemand auf der Straße schlafen. Damit meint man doch, dass die Menschen selbst schuld sind.

Tatsache ist, dass viele Menschen, die wir kennen, von den Angeboten der bestehenden Wohnungslosenhilfe nicht abgeholt werden. Die Notunterkünfte und Angebote der Wohnungslosenhilfe werden teilweise als derart bedrohlich und schädigend empfunden, dass sie die Straße vorziehen.

Das hat mit freiwillig aber gar nichts zu tun. Unser Ansatz ist daher zu fragen, was die Menschen wollen, und dann herauszufinden, wie wir genau dabei unterstützen können. Die meisten möchte zuerst eine Normalwohnung – Housing First. Es gibt Menschen, die brauchen tatsächlich nur einen Mietvertrag, haben aber keine schwerwiegenden Probleme. Und dann gibt es Leute, die haben ein ganz spezifisches Problem, zum Beispiel Gewalterfahrung. Es gibt Leute, die haben eine Suchterkrankung, gehen arbeiten und könnten ganz normal wohnen. Und es gibt Personen, sehr viele sogar, die sind schlicht überschuldet. Housing First geht auf die individuellen Wünsche und Ziele ein. Die setzen aber nicht wir, sondern die Menschen selbst.

Und wie geht man z.B. im Vorreiterland Finnland da vor?

Ja, interessant ist beispielsweise die Reihenfolge, mit der man in Finnland den unterschiedlichen Zielgruppen Angebote gemacht hat: Menschen mit schweren Problemen kamen nämlich zuerst dran. Bei uns neigt man dazu, erst denjenigen zu helfen, die gut vermittelbar sind. Es erscheint einfacher und auch nach außen hin Erfolg versprechender, die junge Mutter mit dem kleinen Kind und der Räumungsklage, in neuen Wohnraum zu bringen als einen älteren Mann mit Alkoholproblem, der seit 20 Jahren auf der Straße lebt. Aber um es deutlich zu sagen: Bei ihm läuft grade die Uhr. Dieser Mann erfriert vielleicht bald. Wir haben uns gesellschaftlich so daran gewöhnt, dass wir den Menschen beim Sterben zuschauen, dass wir das für normal halten. Das darf nicht sein. Ich finde, wir müssen schnellstmöglich jene versorgen, die am dringendsten unsere Hilfe brauchen.

Welche Rolle spielt denn die Nachsorge und Prävention in dem Konzept?

In Finnland setzt man seit fast 30 Jahren Housing First um. So konnte man nicht nur Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit systematisch abbauen, sondern auch gute Präventionsarbeit leisten. Es gibt Gefährdetenlisten, die sofort aktiv werden, sobald bestimmte Parameter zutreffen. Gehört man zu einer Risikogruppe für Wohnungsnot, meldet sich jemand noch vor Wohnungsverlust und bietet aktiv Hilfe an.

Warum tun wir uns hier in Deutschland so schwer damit, Housing First umzusetzen?

Es gibt unterschiedlichste Gründe, warum Menschen gegenüber Housing First skeptisch sind. Einer ist, dass man das Hilfesystem umdenken muss. Um in unserem jetzigen Hilfesystem, Angebote abrechnen zu können, muss man ein Problem feststellen – notfalls erfindet man eines. So werden die Menschen zu „Fällen“, denen die angediehene Hilfe jedoch oft nicht gerecht werden kann, weil ihre Probleme oft ganz andere sind. Es entsteht eben auch eine Gruppe Menschen, die konsequent auf der Straße lebt, weil sie sich vom Hilfesystem entweder im Stich gelassen oder bevormundet fühlt. Wohnungslosigkeit ist in erster Linie ein strukturelles Armutsphänomen.

Sie haben erklärt, wie sich das Hilfesystem nach dem Housing-First-Konzept wandeln muss, aber ist es nicht auch notwendig, dass ein Umdenken in der Gesellschaft stattfindet?

Ich erlebe täglich eine unglaubliche Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen. Gleichzeitig will keiner einem Obdachlosen mit seelischer Erkrankung eine Wohnung vermieten. Das traut man sich nicht, vielleicht weil er Selbstgespräche führt. Würde jedoch die eigene Mutter anfangen in ihrer Demenz mit sich selbst zu sprechen, würde man sie auch nicht allein lassen, oder? Das Ganze hat eine gewisse Doppelmoral. Das hat man auch gesehen, als viele Menschen Wohnraum für ukrainische Kriegsflüchtlinge bereitgestellt haben. Das fand ich richtig und großartig. Den Wohnraum einem Obdachlosen zu vermieten ist dagegen für viele keine Option. Housing-First-Projekte zeigen, dass auch obdachlose Menschen mit Suchtproblematik, seelischer Erkrankung und anderen schweren Problemen normal wohnen können, wenn man die richtige Hilfe anbietet.

„Politik und Verwaltung müssen sich zum Ziel machen, dass Obdachlosigkeit in Zukunft nicht mehr nur verwaltet, sondern überwunden wird.“

Im Sommer wurde dann im Rahmen eines Fachtags in Bremen der Bundesverband Housing First gegründet, in dessen Vorstand Sie sind. Wie kam es dazu und welches Ziel hat dieser Verband?

In der Zeit der Coronapandemie wurden diejenigen, die gerade angefangen hatten, das Housing-First-Konzept umzusetzen, erstmal ganz schön ausgebremst. Gemeinsame Zoomkonferenzen waren der Anfang eines sehr fruchtbaren Austauschs unter den deutschen Projekten, der dann im Rahmen eines Fachtags in Bremen im Sommer 2022 fortgesetzt wurde. Am Ende haben sich rund 20 Housing-First-Projekte zu einem neuen Dachverband zusammengeschlossen, um ihre Expertise zu bündeln und gleichzeitig die eigenen Interessen besser nach außen vertreten zu können – auch Housing-First-Skeptiker*innen gegenüber. Übrigens gibt es auch ein europäisches Netzwerk, in dem wir nun sichtbar sind und uns viel von anderen abschauen können, die da schon ein paar Jahre Vorsprung haben.

Aus welchen Gründen wird denn Kritik geübt? Aus welcher Ecke kommt die?

Es gibt verschiedenste Gründe, warum SozialarbeiterInnen Housing First ablehnen. Ein Grund ist Machtverlust. Wenn ich wie im klassischen Stufensystem, über ein Zimmer verfüge und entscheide, ob die Tür auf und zu geht, habe ich Kontrolle. Das geht bei Housing First eben nicht. Housing First bedeutet in allererster Linie Machtverzicht. Aber da kommt nun eine neue Generation von Sozialarbeiter*innen, die sagt: „Die Menschen sollen selbst bestimmen können.“ Für die heute Studierenden ist Recovery-Orientierung nichts Fremdes mehr. Es geht nicht nur um „satt und sauber“, sondern auch darum, dass die Menschen ein sinnstiftendes Leben für sich entwickeln können. Das ist das Schöne an der Arbeit.

Wie sieht das denn finanziell aus? Kostet die Umsetzung des Housing-First-Konzepts nicht auch Geld?

Das ist ein schlechtes Argument, denn Housing First ist kosteneffizienter als das bestehende System. Die Sorge einiger etablierter Träger ist vielmehr, dass ihre eigene Arbeit durch den Erfolg von Housing First in einem schlechten Licht stehen könnte. Ein Beispiel: Die Wohnstabilität in einem klassischen Betreuten Wohnen sieht so aus, dass man mit einem Klienten vielleicht fünf Jahre durch alle Hilfen geht, der dann – im Idealfall – eine Wohnung bekommt. Die Betreuung ist abgeschlossen. Zwei Jahre später sind von diesen Personen nur noch 40 % in dieser Wohnung, weil ihre Probleme wieder durch die Hintertür gekommen sind. Bei Housing First liegt die Wohnstabilität bei 90 %. Man hat also für die Hälfte des Geldes eine doppelt so gute

Erfolgsquote. Das können viele Träger nicht einordnen oder fühlen sich dadurch in Frage gestellt. Hinzu kommt, dass man hierzulande häufig bevorzugt denen hilft, die sich an die Angebote anpassen. Wer zu häufig in Konflikte gerät, bleibt dauerhaft mit der Zuschreibung „Systemsprenger“ draußen. Eine Stärke von Housing First ist, dass man sich konsequent fragt, was verbessert werden muss. Das ist zwar anstrengend – vor allem für uns als Wohnungslosenhilfe. Darin liegt aber der Erfolg begründet.

Gerade in Städten wie Köln herrschen teilweise schlimme Zustände in den Notunterkünften. Sind das Auswüchse davon, dass man Armut eher verwaltet, als dass man gegen sie vorgeht? Wie kann es angehen, dass sich da seit Jahren nichts ändert?

Der Staat ist verpflichtet, obdachlosen Menschen eine Notunterkunft zur Verfügung zu stellen. Kommt ein Mensch dort an, kann er ein paar Nächte bleiben und dann – so der Plan ¬ – schaut man für ihn nach Hilfe oder einer Wohnung. Weil wir in Deutschland aber den Wohnungsmarkt regelrecht gegen die Wand gefahren haben, gibt es die eben nicht. Solange nicht mehr Wohnraum geschaffen wird, ändert sich daran nichts grundsätzlich. Daher mieten Städte auch Billighotels an, die oft verschimmelte Wände haben, in denen die Bettwäsche nicht gewechselt wird und wo oft zwei Personen auf 14 Quadratmetern leben. Das Deutsche Institut für Menschenrechte sagt dazu, dass es vielen Notunterkünften an einem menschenwürdigen Mindeststandard fehlt.

Ein Grund ist sicher auch, dass die Menschen aus der Obdachlosen-Statistik rausfallen, sobald sie dort unterkommen. Sie gelten dann lediglich als wohnungslos, an ihrer Situation ändert sich jedoch längerfristig nichts. All diese Missstände scheinen also hinreichend bekannt. Woran hapert es in der Umsetzung?

Politik und Verwaltung müssen sich zum Ziel machen, dass Obdachlosigkeit in Zukunft nicht mehr nur verwaltet, sondern überwunden wird. Wir haben in Köln und auch in vielen anderen Städten inzwischen die Expertise dafür. Wir können belegen, dass Housing First funktioniert, und wissen, wie man es umsetzt. Es fehlt noch der Wille, das auch in der Breite zu tun. Ein Grund für Obdachlosigkeit ist auch, dass wir über hundert Jahre dem Irrglauben aufgesessen haben, dass obdachlose Menschen nicht wohnfähig seien. Wir individualisieren immer wieder gesellschaftliche Probleme, ohne sie an ihren strukturellen Wurzeln zu packen.

Zum Schluss noch kurz ein Faktencheck. Wie viele obdachlose Menschen hat Housing First Köln nun in den letzten drei Jahren – unter erschwerten Coronabedingungen wohlgemerkt – in Wohnraum und Hilfe gebracht?

Es sind 14 Menschen, die einen ganz normalen Mietvertrag bei einem Vermieter unterschrieben haben und weiterhin Hilfe durch unsere Experten bekommen. Davon haben vier ihre Hilfe bereits erfolgreich beendet. Und wir machen weiter und sehen für das Projekt optimistisch in die Zukunft, wenngleich wir grade wieder an unsere Betreuungskapazitäten stoßen. Inzwischen arbeitet für uns eine Immobilienmaklerin, wir haben einen Psychologen im Team und zwei Sozialarbeiter*innen. Übrigens gibt es bei keinem Mieter einen einzigen Cent Mietrückstand, kein einziger hat den Kontakt zu uns abgebrochen. Ich habe mal ausgerechnet – Stand Januar 2023 –, wir der Stadt Köln in drei Jahren alleine schon 140.000 Euro an Unterbringungskosten gespart haben. Dasselbe passiert zeitgleich in New York, in Helsinki und in Kopenhagen. Wir arbeiten daran, dass Housing First auch in Köln ein dauerhaftes Hilfsangebot bleibt.