„Wen sollen wir anrufen, wenn wir Hilfe brauchen?“
Am Nachmittag des 8. August, ein Montag, ruft der Leiter der Jugendhilfe St. Elisabeth in der Dortmunder Nordstadt die Polizei. Ein 16-Jähriger, geflüchtet aus dem Senegal, erst seit wenigen Tagen in Dortmund, hält sich im eingezäunten Hof der benachbarten Kirche auf. Er sei in einer psychischen Krise, habe ein Messer bei sich und möglicherweise vor, sich umzubringen. Wenig später ist Mouhamed Lamine Dramé tot, getroffen von fünf Kugeln aus der Maschinenpistole eines Polizeibeamten.
Von Bastian Pütter | Fotos: Alexandra Gehrhardt, Verein für Medienkultur und Medienpolitik

Wenig ist bekannt am Tag darauf – Alter, Herkunft, Tatwaffe, und dass es der vierte Tote bei einem Polizeieinsatz innerhalb einer Woche ist –, als sich 450 Menschen auf dem Kurt-Piehl-Platz nahe dem Tatort versammeln, viele von ihnen Nachbarn, meist Angehörige afrikanischer und anderer migrantischer Communities. Die Polizei gibt die Teilnehmerzahl mit 200 an. Auch die Medien, die JournalistInnen vor Ort haben, übernehmen diese Zahl.
Auf kurze Redebeiträge folgt ein offenes Mikrofon. Eineinhalb Stunden treten ohne Pause Menschen in die Mitte des Platzes, die meisten sprechen frei. Sie erzählen, wie sie bei der Arbeit vom Tod des 16-Jährigen erfahren haben, von der Angst um die eigenen Kinder. Die Beiträge wechseln zwischen Wut und Trauer, viele handeln von Angst, Misstrauen und eigenen Erfahrungen als Nichtweiße mit der Polizei in der Nordstadt, mit erlebter Feindseligkeit und als willkürlich empfundenen Kontrollen. Eine Frau erzählt, wie sie einen Schwarzen Freund, der überfallen wurde, verletzt ins Klinikum Nord brachte. Die Ärztin habe gefragt: „Sie kommen nicht von der Nordwache?“ – „Nein.“ – „Dann sähen Sie auch ganz anders aus.“ Andere berichten von erfahrener Gewalt dort, von Schlägen im Streifenwagen. „Sogar Hunde werden besser behandelt.“ Immer wieder wenden sich RednerInnen direkt an die auffallend wenigen BeamtInnen, die mit Abstand am Rand stehen, scherzen. „Ich frage mich, wen wir anrufen sollen, wenn wir Hilfe brauchen? Die Polizei ist es nicht.“
Die Polizei verzichtet auch darauf einzugreifen, als die Kundgebung unangekündigt zur Wache Nord zieht, um die Herausgabe des Namens des Toten zu fordern. Man will die Angehörigen im Senegal informieren. Viele fürchten, dass auch das verschleppt wird, weil nun Polizisten aus dem benachbarten Recklinghausen ermitteln und der Staatsanwalt bereits früh angekündigt hat, für Wochen keine weiteren Informationen herauszugeben.
„Ich bin auch 16″
Ermittelt wird über Kreuz: Den Fall eines Mannes, der wenige Tage zuvor bei einer Festnahme in Oer-Erkenschwick starb, untersucht die Polizei Dortmund. Die dort verantwortliche Polizei Recklinghausen soll den Tod des 16-Jährigen in Dortmund aufklären. Der Dortmunder Migrationsund Bildungsforscher Aladin el-Mafaalani, Professor in Osnabrück, nennt diese fehlende Sensibilität „verstörend“. Sie zeige, „dass hier das Gespür fehlt und der gesellschaftliche Wandel bei der Thematik nicht verstanden wird. Sensibilität für das Thema Rassismus steigt vor allem bei jungen Leuten drastisch an. Gleichzeitig sieht man bei der Polizei, dass die sehr langsam auf diese Prozesse reagiert.“
Kurz darauf hat der Tote doch einen Namen und ein Gesicht: Er heißt Mouhamed Lamine Dramé, sein Foto tragen die Demonstrierenden an den Folgetagen bei sich, es klebt in Hauswänden und an der improvisierten Gedenkstelle am Zaun des Kirchengeländes an der Holsteiner Straße. Hier bleiben immer wieder Nachbarn stehen, schweigen, beten, legen Blumen ab. „Polizei ist hier normal“, sagt Hussein, der mit einem Freund hier haltmacht. „Da guckt keiner mehr. Die laufen zu viert oder fünft und du gehst besser aus dem Weg, oder die rasen hier mit den Bussen durch, da musst du schnell sein. Aber dass die mit elf Mann kommen und mit der MP durch den Zaun schießen, der Junge saß hier – das ist nicht normal.“ Er fügt hinzu: „Ich bin auch 16.“
Längst ist der Tod Mouhameds bundesweit Nachrichtenthema. Polizeiforscher Thomas Feltes, bis 2019 Professor für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum erklärt: „In diesem Fall bündeln sich alle Aspekte der Diskussionen der vergangenen zwei, drei Jahre: Polizeiarbeit im Problemstadtteil, der Rassismusverdacht, die Frage des polizeilichen Umgangs mit psychisch Kranken, die Diskussion um das Messer als Tatwaffe bei Jugendgewalt. Dazu kommt noch – und das ist in meinen Augen leider ein Grund für die Medienwirksamkeit – die Maschinenpistole.“
Die Politik stellt sich gleich nach der Tat hinter die Beamten, Medien übernehmen die Darstellung von der „privilegierten Quelle“ Polizei. Doch in der Stadtspitze sind die Dimension und die Auswirkungen auf den Stadtteil und seine BewohnerInnen, auf die Communities und die vielen sozialen und Jugendhilfeeinrichtungen schnell klar. Es gibt Krisensitzungen mit den Akteuren u.a. der Jugendhilfe, Oberbürgermeister Thomas Westphal und Stadtdirektor Jörg Stüdemann besuchen das Totengebet für Mouhamed Lamine Dramé in der Abu-Bakr-Moschee im Stadtteil.
„Vertrauen ist das Problem“
Die Folge sind wütende Attacken, orchestriert von AfDund rechten Polizeiakteuren. Der Warendorfer Polizeigewerkschafter Manuel Ostermann, Stellvertreter des einschlägig bekannten Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, nennt Westphals Anteilnahme „erbärmlich“ und „charakterlos“. In der Polarisierung der Debatten zeigen sich die entkoppelten Erfahrungswelten. Die Polizei in Deutschland ist eine hochrespektierte Institution. Wer weiß und nicht arm ist, erlebt sie als ansprechbar, hilfreich, oft als zugewandt. Für viele Konservative ist sie auch vor diesem Hintergrund sakrosankt; Kritik, wie sie etwa gegenüber Schule oder Verwaltung alltäglich ist, wird als verdächtig oder extremistisch gebrandmarkt. Immer größere Gruppen machen aber schlechte Erfahrungen mit der Polizei. Gelingende Integration – nach einer Denkfigur Aladin el-Mafaalanis – führt dann dazu, dass Ansprüche z.B. nichtweißer Deutscher an Respekt und Gleichbehandlung deutlicher gefühlt und lauter vorgetragen werden.
„Vertrauen ist das Problem“, sagt Aladin el-Mafaalani. „Deswegen finde ich es sehr richtig, dass sowohl der Polizeipräsident als auch der OB explizit über Vertrauen gesprochen haben. Wenn man feststellt, dass es viele Menschen gibt, die der Polizei nicht mehr vertrauen und die Angst an ihre Kinder weitergeben, und man das abstellen will, ist es mit Marketing nicht getan. Es fängt bei transparenten Verfahren an, beginnt aber auch im Stadtteil. Die Nordstadt ist an vielen Stellen vorbildlich für einen institutionalisierten Vertrauensaufbau über Bürgerbeteiligung, Arbeitskreise, kleinteilige Prozesse“, sagt er. „Jeder kann sich selbst fragen: Was muss passieren, damit ich jemandem vertraue, dem ich bisher misstraue. Vertrauen entsteht und stabilisiert sich im gelebten Alltag, durch kontinuierliche gute Erfahrungen.“
„Für mich ist erst einmal nachrangig, ob die vielfach geschilderten Einstellungen, dass die Polizei eher als Feind denn als Freund wahrgenommen wird, richtig oder rational erklärbar sind“, ergänzt Thomas Feltes. „Wir wissen aus der Forschung zur Kriminalprävention, dass weiße Deutsche das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, meist stark überschätzen. Polizei reagiert richtigerweise intensiv darauf. Die gefühlte Sicherheit ist ein wichtiges Ziel polizeilichen Handelns. Wenn bei anderen Gruppen in der Gesellschaft sich die Auffassung ,Die Polizei ist unser Feind‘ durchsetzt, dann muss genauso alles getan werden, um dieses Vertrauensverhältnis wieder herzustellen.“
