Menü aus dem Müll
Samstagabend, zehn Uhr. In der Dortmunder Nordstadt treffen sich Maya, Kim und Frieda. In zwei Stunden werden die drei Studentinnen wieder hier sein. Dann mit Rucksäcken voller Lebensmittel aus den Mülltonnen der umliegenden Super- und Biomärkte. Wir haben die drei beim Containern begleitet.
Text und Fotos: Sebastian Sellhorst

In unregelmäßigen Abständen treffen sich die drei am Wochenende zu einer abendlichen Runde entlang der Mülltonnen der großen Supermarktketten auf der Suche nach entsorgten, aber noch verwertbaren Lebensmitteln. „Eigentlich sind wir immer samstags unterwegs“, sagt Maya. „Das ist der beste Zeitpunkt zum Containern, weil die Mülltonnen dann am vollsten sind“, erzählt sie, während wir uns mit dem Fahrrad auf den Weg zum ersten Stopp machen, einen Supermarkt in Dortmunder Kaiserstraßenviertel.
Als Verbraucher sind wir mittlerweile an volle Regale und frisches Gemüse bis Ladenschluss gewöhnt. Ein Großteil der verderblichen Ware, die am Samstag, dem umsatzstärksten Tag im Lebensmittelhandel, keinen Abnehmer findet, landet im Müll. Eine vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft beauftragte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich im Müll landen, rund die Hälfte davon, bevor sie überhaupt in Privathaushalten angekommen sind.
Im Licht des Bewegungsmelders

Die rechtliche Situation beim Containern ist komplex und immer wieder Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten. Alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht haben sich schon mit der Frage befasst. Laut Abfallrecht bleibt Müll auf Privatgelände bis zur Abholung Eigentum des Wegwerfers. Regelmäßig kommen also Diebstahl oder gar schwerer Diebstahl in Betracht. Wird beim Containern ein Hindernis überwunden, kommt Hausfriedensbruch hinzu. Dass man nicht nichtsahnend diese möglichen Rechtsverstöße begeht, wird klar, als wir den ersten großen Supermarkt erreichen. Ein Schild warnt vor Videoüberwachung, ein hoher Holzzaun schützt die beiden großen 1.100-Liter-Müllcontainer vor unbefugtem Zugriff. Ein Bewegungsmelder sorgt für gute Beleuchtung, als sich Maya und Frieda gekonnt über den Zaun schwingen.
„Erwischt wurden wir bisher zum Glück noch nie. Es kommt schon mal vor, dass ein Anwohner irgendwas aus dem Fenster ruft, wenn er uns sieht. Aber das war es eigentlich auch schon“, erzählt Kim, während sie den beiden anderen leere Jutebeutel anreicht. Die meisten Leute würden sie einfach ignorieren.
Im Inneren des Holzverschlags haben Maya und Frieda die beiden großen Mülltonnen geöffnet. Mit einer Taschenlampe versuchen sie, sich einen Überblick zu verschaffen. „Juhu, rote Beete und Spargel“, freuen sie sich über die saisonale Ausbeute. In einem großen blauen Müllbeutel finden sie eine bunte Auswahl an Brötchen und anderen Backwaren. Alles wird auf Schimmelbefall geprüft, bevor es in einem der Jutebeutel landet. „Gemüse, das nicht mehr perfekt aussieht, landet im Müll. Lebensmittel mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum werden in der Regel auch nicht mehr verkauft. Gemüse, Brot und Joghurts finden wir daher eigentlich immer. Tiefkühlkost eher seltener“, erzählt Maya, während sie Zitronen in „gut“ und „nicht mehr gut“ sortiert. Man müsse den Speiseplan allerdings schon nach den gefundenen Lebensmitteln ausrichten. Sich ein Rezept herauszusuchen und dann Containern zu gehen, das funktioniere nicht.
Die Zahl der Initiativen und Onlineportale, die sich mit dem Thema Lebensmittelverschwendung beschäftigen, ist mittlerweile unüberschaubar. Unzählige Internetplattformen versuchen mit verschiedensten Konzepten der Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken. Foodsharing.de, ein großes Internetportal, verteilt Lebensmittel, bevor sie entsorgt werden. Die App „Too good to go“ will Gastronomen die Möglichkeit bieten, Überproduktion zu reduzierten Preisen anzubieten. Die Tafeln sind bei den großen Ketten längst fest in die Kalkulation integriert. Die meisten Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe pflegen Kooperationen mit Lebensmittel-Einzelhändlern oder Bäckereien. Substanziell verringert hat das den Müllberg aus noch verzehrfähigen Lebensmitteln kaum.
2019 hat das Bundeskabinett eine Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung verabschiedet mit dem Ziel, bis 2030 in Deutschland die Menge weggeworfener Lebensmittel pro Kopf auf Einzelhandels- und Verbraucherebene zu halbieren. Sie setzt dabei auf Freiwilligkeit und „Dialogforen“.
Ein voller Kühlschrank
Als wir an der nächsten Station die Verladerampe zu den Containern herunterfahren, treffen wir auf eine ältere Dame. Mit einem alten Einkaufs-Trolley und einer Taschenlampe ausgerüstet sortiert sie neben einem Container ihr gefundenes Essen. Schnell wird uns allen klar: Hier vertreibt sich niemand die Zeit an einem Samstagabend, hier sucht jemand nach Essen. Nach anfänglicher Verunsicherung auf beiden Seiten kommen wir ins Gespräch. „Möchten Sie Brot?“, fragt Maya. „Wir kommen grad vom Biomarkt, da gab es viel.“ Das Angebot nimmt sie gerne an. Dann sitzen wir schnell wieder auf unseren Rädern. „Es kommt immer mal wieder vor, dass man Leute trifft, wenn man Containern ist. Die Vorstellung, dass da jemand im Müll nach Essen sucht, weil er keine andere Möglichkeit hat, schockiert mich aber jedes Mal aufs Neue“, erzählt Maya, während wir vom Parkplatz rollen.

„Wir sind in der glücklichen Situation, dass wir auf die gefundenen Lebensmittel nicht angewiesen sind. Menschen, bei denen wir den Eindruck haben, dass es bei ihnen vielleicht anders ist, denen lassen wir natürlich den Vortritt“, erzählt Frieda, während wir auf dem Weg zur letzten Station des Abends sind. Auch bei der Auswahl der Supermärkte, die sie anfahren, versuchen die drei niemandem etwas wegzunehmen. „Wir sind fit und können auch mal über einen Zaun klettern. Die gut zugänglichen Container lassen wir daher meist für Leute, die das nicht können, aus.“
In einem kleinen Innenstadtpark halten wir an. „Natürlich ist uns klar, dass Containern nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber wir haben Spaß dabei, retten ein paar Lebensmittel und haben für null Euro etwas im Kühlschrank“, erzählt Kim, während sie die gefundenen Lebensmittel auspackt, um sie aufzuteilen. Am Ende ihrer Tour liegen unzählige Brötchen, diverse Joghurts und Smoothies, eine Tüte voller Gemüse und diverse Brotlaibe vor uns. „Wir haben kein professionelles Netzwerk. Aber wenn wir von irgendetwas zu viel haben, teilen wir das natürlich mit unserem Freundes- und Bekanntenkreis“, sagt Maya. Ob wir auch etwas mitnehmen wollen, werden wir gefragt, bevor wir uns verabschieden. Wir sind skeptisch und lehnen dankend ab. Eine Entscheidung, die wir bereuen, als uns später Fotos der zubereiteten Gerichte erreichen.