Während wir arbeiten
Alle zwei Jahre lädt das traditionsreiche Theaterfestival Favoriten die freie Szene Nordrhein-Westfalens nach Dortmund ein. Unter dem Titel „While we are working“ werden im September Arbeiten aus Performance, Tanz und Theater präsentiert. Als die Vorbereitungen begannen, ahnten die künstlerischen Leiterinnen Olivia Ebert und Fanti Baum nicht, dass die Produktionsbedingungen freier Kunst auch auf ganz drastische Art Thema werden würden. Favoriten 2020 ist eines der ersten Festivals vor Publikum in Zeiten von Corona.
Von Bastian Pütter

Die meisten Menschen haben schon im Alltag mit der Planungsunsicherheit und den sich ändernden Regeln und Wissensständen in der Pandemie zu kämpfen. Wie organisiert man unter diesen Bedingungen ein zehntägiges Festival?
Olivia Ebert: Das war die Frage ab März. Lange ging es darum, ob wir das Festival überhaupt machen und wie wir uns vorbereiten können: Wie können wir fair mit Team und KünstlerInnen umgehen, Verabredungen halten – und welche Möglichkeiten gab und gibt es, einen eventuellen Ausfall, der eigentlich durchgehend nicht unwahrscheinlich erschien, abpuffern zu können?
Fanti Baum: Das hat uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, unter welchen Bedingungen wir arbeiten, auch vor dem Hintergrund der krisenhaften Erfahrung der Absage der Ruhrtriennale. Was passiert mit all den KünstlerInnen, die nicht auftreten können, was passiert mit den TechnikerInnen? Wie geht dies Land NRW mit seinen freien Kulturschaffenden um? Spätestens da wussten wir, Favoriten muss anders sein! Uns hat es gezeigt, wo es etwas zu verteidigen gibt. Toll war zu erleben, wie klar die Position bei der Stadt Dortmund bei der Frage möglicher Ausfallhonorare war. Inzwischen sind wir gut gewappnet. Und hoffentlich geht es am 10. September einfach mit dem Festival los.
Mit den Themen des Festivals gesprochen: Nach der Frage, wie Arbeit bezahlt wird, ging es dann vermutlich um die Arbeitsbedingungen: Wie funktioniert Kunst unter Hygienevorschriften?
OE: Ja, dann kamen die Regeln. Was ist überhaupt möglich? Wie viele ZuschauerInnen sind erlaubt? Was darf man auf der Bühne überhaupt machen? Hier gibt es eigentlich seit Monaten durchgehend eine große Dynamik.
FB: Im Vorfeld hieß das: Wir haben mit 23 KünstlerInnen und Gruppen telefoniert und erklärt: Das sind die aktuellen Bedingungen – was heißt das für euch? Wollt ihr spielen? Habt ihr Angehörige von Risikogruppen im Ensemble? Zeitweise ging es um Abstandsregeln auf der Bühne.
OE: Es gibt ganz irritierende neue Kriterien, die einbezogen wurden, etwa „exzessives Sprechen“ oder „exzessiver Tanz“. Das hat durchaus Sinn, gleichzeitig entscheiden damit nichtkünstlerische Logiken, welche Kunstform besser reagieren kann und welche nicht. Jetzt sind wir ganz guter Dinge, aber natürlich furchtbar verspätet. Im gedruckten Programm stehen etwa noch gar keine Uhrzeiten, diese finden sich aber auf der Website Irgendwann tritt dann der Perfektionismus erzwungenermaßen zurück und lässt dem Pragmatismus den Vorrang.
Um welche Fragen geht es bei „While we are working“?
OE: Für uns sind es die grundsätzlichen Fragen: Wie ist Arbeit verteilt? Was wird als Arbeit anerkannt? Welche Arbeit ist bezahlt, welche unbezahlt? Das wollen wir mit unserem Programm thematisieren, die Strukturen befragen. Eine künstlerische Strategie ist es ja, sich eine andere Welt auszumalen, um die bestehende zu kritisieren. Ich bin zu sehr Realistin und sehe auch etwa den Rückfall in klassische Rollenmodelle, als dass ich Corona als große Chance begreifen könnte. Die Krise hat gleichwohl mehr Menschen auf sich verschärfende Ungleichheiten aufmerksam gemacht.
FB: Ein Beispiel ist das „Erste Oberhausener Arbeitslosen-Ballett“ von Thomas Lehmen, mit dem wir gerade in das ehemalige Ladenlokal von Backyard am Westenhellweg einziehen. Thomas Lehmen richtet sein „Brauchsse Jobb? Wir machen Kunst!“ an Arbeitslose in allen Lebenslagen. Die Arbeit thematisiert Grundfragen der Arbeitsgesellschaft, aber natürlich auch die Rolle der KünstlerInnen in dieser Stadt.
Mit Johan Simons in Bochum und dann mit Julia Wissert in Dortmund haben sich die Ensembles der Stadttheater hier zuletzt deutlich diversifiziert. In der freien Szene nehmen (post-)migrantische Positionen längst eine wichtige Rolle ein. Wie zeigt sich das bei Favoriten?
FB: Wir können in Dortmund nicht über Arbeit sprechen, ohne über Migration zu sprechen. In Dortmund gehört Diversität seit über hundert Jahren zum Alltag. Auch wenn diese Nachricht nur langsam in den Institutionen ankommt, gibt es in der freien Szene natürlich Positionen, die nicht weiß sind und die versuchen, dieses Theater anders zu adressieren.
OE: Gleichzeitig haben wir beschlossen, Gestaltungsraum abzugeben und Tunay Önder („migrantenstadl“) aus München eingeladen, die mit dem Projekt „Maşallah Dortmund“ vier Tage lang postmigrantische Positionen in der Nordstadt versammelt.
FB: Besonders ist für uns die Premiere „Metamorphose“ von David Guy Kono, der Exilerfahrungen mit Kafkas Verwandlung zusammenbringt. Das ist eine Dortmunder Arbeit, bei der wir uns sehr früh entschieden haben, sie selbst zu produzieren.
Eine Kontinuität bei Favoriten ist das Bespielen theaterferner Orte. Diesmal geht es unter anderem in die Gartenstadt.
OE: Genau, um Wohnen als soziale Frage zu thematisieren. Philine Velhagen bespielt ein Wohnhaus und stellt in einer Hausbesichtigung Fragen nach Besitz und Zugang zu Wohnraum. Als Zuschauerin stöbert man zunächst durch die Räume, später rückt die Geschichte des Hauses in den Mittelpunkt, es beginnt selbst zu erzählen. Aus den vereinzelten WohnungsinteressentInnen entsteht eine temporäre Hausgemeinschaft.
Ihr arbeitet beide in den unterschiedlichsten Rollen – Kuratorin, Regisseurin, Performerin, Dozentin – und in ganz Deutschland im Feld Theater. Was ist das Besondere an Favoriten?
OE: Zu Favoriten gehört der Spagat: Einerseits gibt es auch bei uns das besondere Bemühen, das Festival in der Stadt im wahrsten Sinne zu verorten und damit zu öffnen. Gleichzeitig ist es eine Plattform für die freie Szene in NRW
FB: Das Besondere an Favoriten ist der Versuch, das künstlerische Experiment in die Stadtgesellschaft zu tragen. Wir begreifen die Produktionen der freien Szene als Avantgarde für alle – sie sind in bestimmter Weise voraussetzungslos. Es klappt auch ohne Goethe – auch wenn es uns nicht immer gelingt, nichtakademisch zu agieren, ist Favoriten eine Einladung – aus Überzeugung, dass Kunst für alle ist.
OE: Manchmal besteht ja die Schwierigkeit, dass man von klassischem Theater eher ein Bild hat als von Performance und Tanztheater. Wir laden dazu ein, über die Fragen und Themen einen Zugang zu finden. Es geht selten ums Verstehen in den Arbeiten, die wir einladen, es geht eher ums Erfahren – und darum, Fragen zu stellen.
Fanti Baum
freie Künstlerin und Dramaturgin in Theater, Performance und Theorie
Olivia Ebert
freie Kuratorin und Dramaturgin
Gemeinsame Arbeiten:
Festival Favoriten, Dortmund 2018
Reihe „off the record. Denken in präziser Unschärfe“, Frankfurt a.M. 2017
Performance-Festival „implantieren“, Frankfurt a.M. 2016
Favoriten 2020
10. – 20. September
Depot Dortmund, Dietrich-Keuning-Haus, Werkhalle und weitere Spielorte
Tickets und Infos unter favoriten-festival.de