Entkoppelt

Vom 11. bis 21. März macht eine Wanderausstellung Halt in der Halle des Dortmunder Hauptbahnhofs. Auf großformatigen Tafeln zeigt sie Porträts und biografische Texte von Straßenjugendlichen. Ermöglicht wird sie durch die Deutsche Bahn Stiftung, konzipiert und umgesetzt haben sie die Journalistin Annabel Trautwein und der Fotograf Mauricio Bustamante, beide arbeiten unter anderem für das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt.
Text: Bastian Pütter | Fotos: Sascha Radke, Eventpress / Deutsche Bahn Stiftung
„Mit zwölf habe ich schon den ganzen Tag am Bahnhof verbracht. Ich war gerne mit den Leuten da zusammen. Drei Jahre später habe ich entschieden: So will ich auch leben. Im Heim wollte ich nicht mehr sein. Auch nicht bei meinen Eltern. Ich wollte das Leben genießen, ohne Regeln, ohne Zwang. Da war die Straße für mich am schönsten.“ Der 21-Jährige, der so seine Geschichte beginnt, nennt sich Pinky, ein überlebensgroßes Profilfoto mit seinem herausgewachsenen Irokesenschnitt ist Teil der Ausstellung. Der Text erzählt von Sucht und Obdachlosigkeit, einer Therapie und einer Freundin, vom ersten Job, einer berufsvorbereitenden Maßnahme als Frisör. „Irgendwas muss ich ja machen, um ins Leben zu starten.“
20 von 37.000
Pinky ist einer von 20 Straßenjugendlichen aus ganz Deutschland, die sich von Annabel Trautwein interviewen und von Mauricio Bustamante fotografieren ließen. Es sind 20 von 37.000. So viele Jugendliche und junge Erwachsene leben in Deutschland „entkoppelt“, eine Bezeichnung, die dem britischen Begriff „Disconnencted Youth“ folgt: Er bezeichnet junge Menschen, die wohnungslos sind und herausgefallen aus Familie, Schule und Arbeitswelt. Das Deutsche Jugendinstitut hat 2017 in einer groß angelegten Studie untersucht, wie die Biografien und Lebenssituationen dieser Straßenjugendlichen aussehen.

Der erste Befund: „Straßenkinder“ sind es in der Regel nicht. Der Anteil der Unter-14-Jährigen liegt bei weniger als einem Prozent. Ein Drittel der Betroffenen ist hingegen 18 oder 19 Jahre alt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass es auch um ein Scheitern an „Übergangsanforderungen“ geht: „Care leaver“ heißen neudeutsch die jungen Erwachsenen, die volljährig die Systeme der Jugendhilfe – zum Beispiel ihre Wohngruppen und Pflegefamilien – verlassen und den Übergang in ein eigenständiges Leben bewerkstelligen müssen. Wo das misslingt, türmen sich alte und neue Probleme: schwierige familiale Bedingungen, von Brüchen gekennzeichnete Bildungs- und Ausbildungsverläufe, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Suchterfahrungen, Obdachlosigkeit. Bei zwei Dritteln der Unter-18-Jährigen ist die Herkunftsfamilie Hauptauslöser für Straßenkarrieren, an zweiter Stelle nennen die Betroffenen Jobcenter und Jugendamt als Auslöser, später kommen vor allem persönliche Gründe dazu.
„Sie meistern enorm viel.“
In der Ausstellung beschreibt der 20-jährige Locke den Schritt aus der Sicherheit der Jugendhilfe: „Als Jugendlicher war es noch einfach, mal hier und mal da zu pennen. Die Klamotten waren ja sicher in der WG. Als Erwachsener musst du alles mit dir rumschleppen. Manchmal fühle ich mich wie so ‘ne Schnecke, wo jeden Moment jemand drauftritt und dann ist wirklich alles vorbei.“
„Wir haben wenig weggelassen“, sagt die Journalistin Annabel Trautwein im Hinblick auf die zum Teil drastischen Schilderungen der Jugendlichen. „Im Einzelfall haben wir uns mit den Leuten verständigt, dass es besser ist, sie anonym darzustellen. Ich denke da etwa an die Geschichte einer jungen Frau, die mit 12 oder 13 angefangen hat, Heroin zu nehmen, sie heißt Mia.“ Mia ist inzwischen substitutiert, nimmt ein Ersatzmedikament und kein Heroin mehr. Sie hat eine Tochter, die in den Kindergarten geht.
Es gehe jedoch in den Erzählungen der Jugendlichen gar nicht vorrangig um das Erlittene oder um die Belastungen eines Lebens auf der Straße. „Im Vergleich zu den meist älteren Wohnungslosen, mit denen wir bei Hinz&Kunzt zu tun haben, befinden sich die jüngeren Leute an einem ganz anderen Punkt“, vergleicht Annabel Trautwein. „Sie entwickeln gerade ein Verhältnis zur Welt. Es geht auch darum, die eigene Freiheit zu entdecken und auszuprobieren: ,Ich krieg das erstmal alleine hin.‘“ Natürlich erlebten sie die anstrengenden und leidvollen Erfahrungen auf der Straße nicht als Abenteuertrip, „aber sie sehen sich nicht als Gescheiterte, sondern laufen mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein durch die Stadt. Sie trauen sich viel zu und sie meistern enorm viel.“
Fotograf Mauricio Bustamante sieht das ähnlich: „Mich berührt, was für starke Persönlichkeiten ich getroffen habe. Sie kämpfen jeden Tag – mit Drogenproblemen, mit Alkoholproblemen, mit Liebesproblemen –sie müssen sich jeden Tag neu organisieren, und sie sind voller Hoffnung.“
Die Ausstellung wird so zu einer Plattform für eine Stärke, von der der Rest der Gesellschaft oft wenig wissen will. Die Jugendlichen, die sich am Bahnhof oder anderswo im öffentlichen Raum aufhalten, kommen selten ins Gespräch über ihre Situation, sondern erleben stattdessen viel Verachtung, sagt Annabel Trautwein. „Beschimpft zu werden macht wütend und traurig. Teil der Ausstellung zu sein ist für viele ein Statement: ,Seht her, so lebe ich, deshalb lebe ich so. Ich bin übrigens noch nicht abgeschrieben, ich habe Pläne und Träume.‘“
Konferenz der Straßenkinder
Die 21-jährige Ronja hat bereits mit 16 ihre Tage am Bahnhof verbracht, heute teilt sie sich mit einem Freund eine eigene Wohnung. „Früher habe ich bei anderen auf der Couch geschlafen, heute kann ich selbst Leute aufnehmen“, erzählt in der Ausstellung der Text neben ihrem selbstbewussten Porträt mit dem auffälligen Hals-Tattoo, einer Weltkarte. Ihren Bundesfreiwilligendienst machte sie bei der Selbsthilfeorganisation „MOMO“, die auch die jährliche Bundeskonferenz der Straßenkinder ausrichtet. „Es kommen oft Menschen zu mir, die Hilfe brauchen“, erklärt Ronja im Text. „Kein 16-Jähriger hat Bock, draußen zu pennen bei Minusgraden. Aber den staatlichen Stellen trauen viele nicht mehr.“
Apropos Vertrauen: Vor allem der Kontakt zu Ronja und dem 24-jährigen Fettii, der auch Teil der Ausstellung ist und sich wie Ronja bei „MOMO“ engagiert, war für die beiden Ausstellungsmacher ein Türöffner, sagt Mauricio. „In Hamburg, wo ich lebe, konnte ich einfach Leute auf der Straße ansprechen, viele kannten mich“, sagt Straßenzeitungsfotograf Mauricio Bustamante. In anderen Städten verhalf dann das Weitertragen innerhalb des Netzwerks zu einem Vertrauensvorschuss – und auch zu Kontakten nach Dortmund.
Auch, weil die Ausstellung auch das Ziel hat, für das zu werben, was schon die Studie des Deutschen Jugendinstituts als Schlüssel identifiziert hatte: Wohnraum für junge Menschen, Arbeit, die den Selbstwert stärkt, und verlässliche Anlaufstellen. Annabel Trautwein: „Unsere Erfahrung ist, dass in vielen Städten Einrichtungen wie etwa der ,Raum 58‘ in Essen fehlen, von dem uns viele Jugendliche erzählt haben: kein Ort, wo einen die Polizei abliefert und wo man dann wartet, bis eine Pflegefamilie oder ein Obdachlosenheim gefunden ist. Sondern eine Einrichtung, wo es ein Bett und ein Essen gibt und Hilfe, wenn man es möchte, aber nicht den Zwang, der kontraproduktiv wirkt bei Leuten, die ohnehin schon viel zu viel Zwang erlebt haben.“
„entkoppelt“
Eine Ausstellung über junge Menschen auf der Straße
Bahnhofshalle Hautbahnhof Dortmund
11. bis 21. März
Weitere Stationen: Dresden, Nürnberg, Mannheim, Aachen
