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Die übersehene Krise - Wohnungslosigkeit in Dortmund

Weil es „ein technisches Problem mit der Datenbank“ gab, meldete Dortmund für die aktuelle Landesstatistik „Null“ durch die Stadt untergebrachte Wohnungslose. Bisher fragte niemand, wie viele es denn wirklich sind. Die tatsächlichen Zahlen sind erschreckend. Sie haben sich innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht.

Von Alexandra Gehrhardt und Bastian Pütter | Foto: Sebastian Sellhorst

Statistiken sind kompliziert, da macht auch die  „Wohnungsnotfallberichterstattung“ von NRW keine Ausnahme. Jedes Jahr am 30. Juni erfassen die NRW-Kommunen, wer in (Not-)Unterkünften und -wohnungen untergebracht ist, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Dazu zählen die freien Träger der Wohnungslosenhilfe die von ihnen betreuten Menschen ohne eigene Wohnung. Kein perfektes System: Wer etwa auf der Straße lebt, ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen, geht nicht in die Statistik ein. Aber ein System, das immerhin über einen langen Zeitraum – die Statistik gibt es seit 1965 – Entwicklungen ablesbar macht.

2.300 Wohnungslose

Ebenjene Entwicklung ist besorgniserregend. Schon in den vergangenen Jahren stieg die Zahl mit wachsender Dynamik, von 2016 auf 2017 beträgt der Zuwachs beinahe 30 Prozent. Zum Stichtag waren 32.300 Personen in NRW wohnungslos gemeldet – so viele Menschen leben in einer Mittelstadt wie Werl, Waltrop oder Gevelsberg.

Die Dortmunder Zahlen offenbaren eine weitaus dramatischere Entwicklung als in den meisten NRW-Kommunen. Die Zahl der von der freien Wohnungslosenhilfe Betreuten stieg im Vergleich zum Vorjahr um fast ein Viertel auf 509. Wirklich aus den Fugen ist jedoch die Zahl der von der Stadt untergebrachten Personen, die in der Statistik falsch mit Null angegeben ist. Im Vorjahr standen hier 249 Personen, die in städtischen Wohnungen und (Not-)Unterkünften lebten. Auf Nachfrage von bodo nennt die Stadt Dortmund nun aktuell 874 nach Ordnungsbehördengesetz Untergebrachte, unter ihnen 116 BewohnerInnen des vor einem Jahr geräumten Wohnkomplexes Hannibal, die nicht auf dem Wohnungsmarkt unterkommen und um Hilfe nachgesucht haben. Dazu kommen noch einmal 939 anerkannte Flüchtlinge in den Unterkünften. Obwohl die als wohnungslos gelten, hat Dortmund ihre Zahl auch in den vergangenen Jahren für die Statistik unterschlagen. Unter dem Strich beträgt die offizielle Wohnungslosenzahl für Dortmund nun 2.322 – eine Verdreifachung seit dem Vorjahr!

Viel Hoffnungslosigkeit, wenig Chancen

Katrin Lauterborn, Geschäftsführerin des Gast-Haus, erlebt zweierlei: „Einerseits beobachten wir einen Anstieg der Not: Unsere Gästezahlen sind im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen. Auf der anderen Seite haben wir haben immer mehr mit Hoffnungslosigkeit zu tun. Viele unserer Gäste haben keine Chance auf dem Wohnungsmarkt, sei es durch negative Schufa-Einträge oder den Status als obdachlos oder wohnungslos. Das schreckt Vermieter ab. Das Hauptproblem liegt darin, dass ,Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten‘ nicht in der Lage sind, ihre Probleme alleine zu lösen, sie brauchen eine engmaschige Begleitung. Wir nennen dies ,mobile Einzelfallhilfe‘. So etwas ist in der städtischen Wohnungslosenhilfe nicht vorgesehen.“

Auch bei der Diakonie steigt die Zahl der Hilfesuchenden – allein in diesem Jahr im Schnitt um 15 Prozent, „obwohl wir schon über jede Grenze hinaus sind“, sagt Thomas Bohne, Leiter der Zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose. Die Wohnungslosigkeit nimmt seiner Beobachtung nach nicht nur durch steigende Mieten zu, sondern auch durch wachsende Armut: „Neben denen im Transferleistungsbezug haben wir auch Klienten, deren Situation ungeklärt ist, deren Einkommen trotz Arbeit nicht reicht, oder die wegen eines negativen Schufa-Eintrags keine Wohnung bekommen“, so Bohne. „Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich keine Wohnungen mehr finden. Aber der Aufwand wird größer. Wir kennen einige Vermieter, die Vertrauen zu uns haben. Aber bei den großenWohnungsgesellschaften ist der Leerstand gleich Null.“ Auch beim Gast-Haus läuft eine ständige Suche: „Unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter haben sogar manchmal Erfolge, wenn sie unsere Gäste begleiten. Nur über persönliche Kontakte erhalten wir Wohnraum. Der Wohnungsmangel ist hier jedoch deutlich spürbar.“

Bei Zwangsräumungen, von denen es immerhin im Schnitt zwei pro Tag gibt in Dortmund, steigt auf einem überlasteten Wohnungsmarkt die Gefahr, dauerhaft „draußen“ zu bleiben: „Mehrere Fälle von Wohnungsverlust konnten wir vermeiden, wenn unsere Gäste rechtzeitig unsere Hilfe in Anspruch genommen haben“, sagt Katrin Lauterborn. „Wenn die Zwangsräumung durchgeführt wurde, haben wir immer wieder Fälle, die danach keine eigene Wohnung mehr finden. Die Situation ist sehr schwierig.“

Notlösungen statt Wohnungsbau

Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist nicht neu. 6,63 Euro Kaltmiete zahlt man im Mittel in Dortmund – ein Spottpreis im Vergleich zu Hamburg, Köln oder München, eine Menge für Leute, bei denen das Geld knapp ist. „Weil es weniger günstige Wohnungen gibt, wächst auf dem Wohnungsmarkt die Konkurrenz um knapper werdende Ressourcen“, sagt Dr. Tobias Scholz, wohnungspolitischer Sprecher des Mietervereins Dortmund. „Geringverdiener, RentnerInnen, Langzeitarbeitslose, Geflüchtete und Studierende können da nicht mehr mithalten. Selbst Haushalte mit mittleren Einkommen spüren mittlerweile die Anspannung des Marktes.“ Wenn schon die Konkurrenz zwischen denen wächst, die eine Wohnung haben, fallen die, die keine haben, hinten herunter.

Die Stadt steuert vor allem wohnungspolitisch gegen, mit Fördermitteln für günstigen Wohnraum, einer Sozialwohnungsquote und kommunalem Wohnungsbau. Hier sieht der Mietervereinssprecher auch die Kommune in der Pflicht: „Die Stadt sollte selbst dafür sorgen, dass mehr bezahlbare Wohnungen entstehen, die auch dauerhaft in kommunaler Hand bleiben“, so Scholz. Dass die städtische Wohnungsgesellschaft Dogewo21 geförderte Wohnungen auf städtischen Grundstücken baut, ist für ihn ein vorstellbares Szenario.

Zugleich unternimmt die Verwaltung, quasi unsichtbar, enorme Anstrengungen, um offene Obdachlosigkeit zu verhindern. Seit Anfang 2016 hat sie das Wohnraumvorhalteprogramm von 69 auf 705 aufgestockt. Dieses ist gedacht, um Menschen in Notfällen unterzubringen – zum Beispiel, nachdem vor einem Jahr der Hannibal in Dorstfeld wegen Brandschutzmängeln geräumt wurde. Binnen Stunden mussten 753 Menschen ihre Wohnungen verlassen, jahrelang hatte es Beschwerden über defekte Fahrstühle und andere Mängel gegeben. Mehr als 100 ehemalige Hannibal-Bewohner leben noch in Notwohnungen.

Das erhält Nothilfe aufrecht – bezahlbaren Wohnraum schafft es nicht. Selbst Bauherrin sein will die Stadt in Zukunft nicht mehr. „So lange es genug private Investoren gibt, ist das ein gutes Zeichen“, sagte Wohnungsamtsleiter Thomas Böhm im September. Kein gutes Signal für 2.322 Menschen.