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"Hier wird nicht gepennt"

In der Debatte um Obdachlosigkeit in Dortmund ist derzeit vor allem der Westenhellweg und sein Umfeld im Blick. Doch auch neben der Einkaufszone erleben Obdachlose, dass sie unerwünscht sind, berichten von Vertreibung und der Erfahrung, Ruhe nur dort zu finden, wo man nicht mehr sichtbar ist. Die Obdachlosigkeit, die man sieht, scheint es, soll in Dortmund vor allem ordnungspolitisch gelöst werden.

Von Alexandra Gehrhardt und Sebastian Sellhorst
Fotos: Sebastian Sellhorst

Viel ist in den vergangenen Monaten in Dortmund über Obdachlosigkeit diskutiert worden. In der, lange vor allem medial geführten, Debatte geht es dabei vor allem um den Westenhellweg. Auslöser: der Ärger von Gewerbetreibenden und AnliegerInnen über Wohnungslose, die in den Laden- und Hauseingängen der Einkaufsstraße übernachten und, so die Klagen, dort Spritzen und Dreck hinterlassen. Denen wollte die Einzelhändler-Vereinigung drastisch zu Leibe rücken: mit einem Sicherheitsdienst, der nachts die City durchstreift. Daraufhin gründete sich eine Bürgerinitiative, die unter dem Namen „Schlafen statt strafen“ zunächst den geplanten Sicherheitsdienst, mittlerweile grundsätzlich die prekäre Situation von Obdachlosen kritisiert.

Doch Obdachlosigkeit wird nicht nur in der Einkaufsmeile verhandelt. Auch abseits des Westenhellwegs leben Hunderte Menschen ohne Unterkunft in Leerständen, auf Brachen, in Zelten, selbstgezimmerten Behausungen oder ohne jeden Schutz auf der Straße. Und erleben immer wieder, unerwünscht zu sein, wenn sie zu sichtbar sind.

Stefan ist seit vielen Jahren immer wieder auf der Straße. Wenn er nicht bei seinem Bruder in Essen unterkommt, ist er in Dortmund und verkauft das Straßenmagazin. Ob er schon mal von seinem Schlafplatz vertrieben wurde? Der 43-Jährige schmunzelt. „Erst neulich. Ich hatte mir mit meinem Schlafsack eine Ecke in einer Tiefgarage gesucht. Nachts hat mich dann die Sicherheitsfirma vor die Tür gesetzt. War dann halt eine Scheißnacht“, erzählt er. „Um drei Uhr morgens suchst du dir nichts Neues mehr. Und es war echt kalt, also habe ich mir die Zeit mit Spazierengehen vertrieben, bis die Geschäfte aufgemacht haben.“ Er wird wehmütig, als er weitererzählt. Er habe an einer Kirche in der südlichen Innenstadt geschlafen. „Ich hatte sogar einen kleinen Gaskocher zum Heizen. Bis irgendwann der Küster gesagt hat, das geht so nicht weiter.“

Auch Milan kennt das. Seit Oktober ist der 30-Jährige obdachlos. Auch wenn man ihm mit der beigen Hose und dem Ringelpulli nicht ansieht, dass er den Tag nicht im Bad, sondern im Schlafsack begonnen hat. Jetzt gerade, Mitte Januar, schläft er gemeinsam mit zwei Freunden in einem der innerstädtischen Parks. „Da haben sie uns heute Morgen vertrieben. Irgendwann ging das Zelt auf , und Ordnungsamt und Polizei stand uns auf den Füßen. Wir sollten unsere Sachen packen und uns verziehen.“ Nicht das erste Mal für Milan. „Ich hab vorher in einer überdachten Ladenpassage geschlafen. Nachts um drei tritt es vor meinen Schlafsack. ,Verpiss dich, hier wird nicht gepennt‘, haben sie zu mir gesagt. Dann ist die Nacht gelaufen. Du läufst nur noch durch die Gegend, bis es hell wird. Heute suchen wir uns erstmal was anderes.“

Sanktionen, Vertreibung

Die Debatte, die über den Westenhellweg Aufmerksamkeit erregt, ist eine, die seit Jahren immer wieder geführt wird. In jeder größeren Stadt gibt es Konflikte um die Frage, wessen Interessen im öffentlichen Raum höher wiegen und wieviel sichtbare Armut man aushalten will. Dazu kommt in Dortmund eine Ordnungspolitik, die spätestens seit der Pandemie zunehmend repressiv aufzutreten scheint.

Als 2020 zur Eindämmung der Pandemie weitreichende Ansammlungsverbote im öffentlichen Raum verhängt wurden, galten diese auch für Obdachlose. In Dortmund griff das Ordnungsamt durch, belegte Betroffene, die sich tatsächlich oder vermeintlich mit mehr als zwei Menschen im öffentlichen Raum aufhielten, mit zum Teil vierstelligen Bußgeldern. Dass fast alle Versorgungs- und Beratungseinrichtungen geschlossen waren und direkter Kontakt oft der einzige Weg ist, an Informationen über Hilfen zu kommen, blieb genauso unberücksichtigt wie der Umstand, dass, wer obdachlos ist, nicht einfach nach Hause gehen kann. Auch Stefan bekam ein Knöllchen über 200 Euro.

Anfang 2018 hatte bodo öffentlich gemacht, dass das Ordnungsamt Bußgelder für das Schlafen im Freien verhängte. Die Grundlage: die ordnungsbehördliche Verordnung, die, wie in vielen Kommunen, regelt, was im öffentlichen Raum erlaubt ist und was nicht. In Paragraf 7 untersagt sie, „auf Straßen oder in Anlagen auf hierfür nicht besonders freigegebenen Flächen zu lagern, zu campieren oder zu übernachten“, die Stadt kassierte pro Verstoß 20 Euro. Ende 2018 wurde bekannt, dass es um Hunderte Verstöße ging – diesmal schlug die Berichterstattung des Straßenmagazins bundesweit Wellen. Wochen später erst teilte die Stadt mit, zukünftig auf Bußgelder zu verzichten. Der Paragraf gilt aber weiterhin. Und seit rund anderthalb Jahren setzt das Ordnungsamt einen „Weckdienst“ ein, der in Ladeneingängen schlafende Obdachlose wecken und auf die Übernachtungsstellen aufmerksam machen soll. Knöllchen gebe es nicht, teilt die Stadt mit. Betroffene berichten hingegen immer wieder von ganztägigen Platzverweisen für die gesamte Innenstadt.

Ordnungsrecht vs. Verhältnismäßigkeit

Rechtlich ist die Sache klar: Wer eine Ordnungswidrigkeit begeht, hat Sanktionen zu erwarten. Auf die Rechtslage verweist auch die Stadt. Niemand, der dringend Hilfe benötige, müsse draußen schlafen. Fraglich ist, ob der harte Kurs verhältnismäßig ist – vor allem mit Blick auf die Alternativen. Auf die Frage, warum man sich mit den Widrigkeiten des Schlafens im Freien auseinandersetzt statt in die Männerübernachtungsstelle zu gehen, sind die Antworten ähnlich: überfüllte Zimmer, Diebstähle, Schikanen durch das Personal. Kurz: eine Atmosphäre, die darauf setzt, dass man bloß nicht zu lange bleibt. Die Übernachtungsstellen sind sogenannte Clearingstellen, binnen zwei Wochen sollen hier die ersten Problemlagen erörtert und weitere Angebote vermittelt werden. Sie sind aber der Einstieg ins Hilfesystem und sollten damit möglichst offen und zugänglich sein, um zu funktionieren.

In der Praxis bleiben aber viele lieber draußen – oder werden draußen gelassen, wie Michael erzählt. Er ist gemeinsam mit Milan unterwegs, musste wie er am Morgen seinen Schlafplatz im Westpark räumen. Eigentlich kommt er aus Hannover. „Als ich hier ankam, wollte ich in der Männerübernachtungsstelle in der Unionstraße unterkommen.“ Kommunen sind verpflichtet, Obdachlose unterzubringen. „Da haben sie nur gesagt, ich soll zurück nach Hannover. Aber jeder, der hier ist, hat ja seine Gründe, hier zu sein.“

Nun könnte man sagen, dass eine durchgreifende Ordnungspolitik dabei helfen könnte, Obdachlose in die Hilfsangebote zu bringen. Wenn diese aber gar nicht funktionieren, weil große Teile der Betroffenen gar keinen Zugang haben – was ist die Alternative? Lutz Rutkowski ist bei bodo für die Sozialarbeit verantwortlich. Er hört aus der ganzen Innenstadt Berichte von Betroffenen, die von ihren Plätzen weggeschickt oder deren „Platten“ geräumt wurden. Er sagt: „Es mag die Rechtslage sein, aber Obdachlosigkeit nur dorthin zu verdrängen, wo sie weniger sichtbar ist, löst ja das Problem nicht, sondern verschiebt es nur.“ sagt er. Angebote müssen so gestaltet sein, dass sie auch genutzt werden können. Reine Verdrängung hilft nicht. Er sieht noch ein weiteres Problem: „Viele Obdachlose halten sich in der Innenstadt auf, kennen und vertrauen uns. Wir wissen, wo wir sie antreffen können. Wenn ihr Aufenthalt ihnen so unangenehm gemacht wird, dass sie woandershin gehen, sind sie auch für uns und unsere Angebote schwerer erreichbar. Letzten Endes verschärft das die Lage.“ Wie lange Chris an seinem jetzigen Platz bleiben kann, bis sich wieder jemand gestört fühlt, wird sich zeigen.

Milan und Michael haben genug von Dortmund. Sie werden weiterziehen. Was sich Michael von seiner Zeit merkt: „Mit den Cops kannst du reden. Aber das Ordnungsamt ist immer total aggro.“ In der Verwaltung scheint man an der jetzigen Praxis kein Problem zu sehen. Oberbürgermeister Thomas Westphal bekräftigte Anfang Februar auf einer Pressekonferenz der Verwaltungsspitze, in der es auch um die lückenhaften Zugänge zu Notschlafstellen ging, den Kurs der Stadt: „Wir halten es nicht für akzeptabel, dass trotz der ganzen Angebote von Hilfen jeder aussuchen kann, wo er schläft.“ Es klang ein wenig wie eine Drohung.